Wie es weiterging......

George André Lenoir war nicht mehr. Der kleine, alte Mann lag nun in seiner Grabstätte, in dem Mausoleum, dass er selber errichtet hatte; auf dem Friedhof, den er auch für seine Kinder - sollten sie unglücklicherweise früh versterben - errichtet hatte.

Seine Stiftung war finanziell gut versorgt. Als Kaufmann und Unternehmer wusste er, wie wichtig Vorsorge ist. Und da es ihm bewußt war, dass die Verwirklichung seiner Ideen auch in der Zukunft viel Geld erfordern würde, hatte er seiner Stiftung auch die Besitztümer im slowakischen Heilbad Bad Sliac, sein Hotel Meraner Hof und große Ländereien bei Wien hinterlassen, die die laufenden Kosten bestreiten sollten. Die Zukunft seiner Einrichtung sollte eigentlich gesichert sein. Der größte Teil seines einstigen Vermögens war dafür eingesetzt worden; die jährlichen Reineinahmen betrugen ca. 50.000 bis 60.000 Mark. Seine noch lebende Verwandtschaft musste sich mit einem Bruchteil begnügen.

Die Stadt Kassel als Stiftungsnehmerin entschloss sich schon früh, große Teil des unbeweglichen Vermögens zu veräußern. Bargeld lacht. Ich möchte dies nicht bewerten; im Nachhinein erwies sich dies jedoch als ein schwerer Fehler.

'Der erste Weltkrieg kam und ging. Und mit ihm ein größerer Teil des Vermögens. Die Inflation kam und ging. Und nahm dabei einen weiteren großen Batzen des Stiftungsvermögens mit. Und so kam es, dass schon 1928 der Kasseler Magistrat die Auflösung des Waisenhauses beschloss. Keine 20 Jahre nach seiner Eröffnung....

Man bemühte sich, die dort lebenden Kinder auf Familien zu verteilen. Diejenigen, die nicht untergebracht werden konnten, wurden dem Kinderheim Aguste-Förster-Haus in Kassel übergeben. 

Man überlege sich: ca. 6,5 Millionen Goldmark hatte George André Lenoir in seine Stiftung investiert. Ein großes Vermögen hinterlassen, in der Hoffnung, für viele Generationen ein Heim zu erschaffen, in denen die Kinder glücklich leben und ihre Fähigkeiten ausschöpfen könnten. Und nun, nicht einmal eine Generation später, war diese Hoffnung gestorben.

Eine Zeit lang standen die Gebäude leer, ehe sie von der Stiftung dem Stadt-Jugendamt für eine Jahresmiete von 1500 Mark überlassen wurden. Zum damaligem Zeitpunkt kostete eine kleine Zweizimmerwohnung schon 40 Mark Miete. Monatlich. Vielleicht war es ein Problem, das die Stiftungsnehmerin - die Stadt Kassel - an sich selber vermietete? Nun, ich denke schon.

Man mag darüber denken, was man will. Ändern kann man es nicht mehr. Noch weniger kann man das folgende ändern, dass ich - wenn ich Führungen im Mausoleum mache - nur sehr leise sage, damit es der Stifter nach Möglichkeit nicht mitbekommt: ab 1933 wurde die Stiftung auch der Hitler-Jugend als Erholungsheim (nach anderen Berichten auch als HJ-Führerschule) zur Verfügung gestellt. Und ich glaube, wenn dies der alte Mann mitbekommen hätte, hätte er den Verantwortlichen die Stiftungsurkunde gewaltig um die Ohren gehauen. War es doch sein Bestreben gewesen, sein schriftlich niedergelegter Wille, dass seine Einrichtung "...ohne Rücksicht auf Confession, Orts- und Landesangehörigkeit der Eltern.." betrieben wurde. Und nun eine Organisation, einen Teil eines verbrecherischen Regimes zu beherbergen, welches Menschen auf Grund ihrer Religion oder ihrer Herkunft als Untermenschen und lebensunwürdig betrachtete, dass hätte er niemals geduldet. Das weiß ich so genau, wie man etwas nur wissen kann. Es ist der unrühmlichste Teil der Geschichte, dessen Zustandekommen er nicht mehr beeinflussen konnte. Und den ich wirklich nur leise erwähne, um den alten Mann nicht zu betrüben.

Im 2. Weltkrieg dienten die Häuser verschiedenen Zwecken, als Lazarett, Unterkunft für Arbeiter des Munitionswerkes, für Ausgebombte. Das einstige Lachen von Kindern war verstummt.

Erst 1950 zog mit dem Auguste-Förster-Haus wieder ein Kinderheim in die Lenoirstiftung. Das AFH war ursprünglich in Kassel beheimatet, benötigte jedoch, da es während der Luftangriffe ausgebomt war, neue Räumlichkeiten. Und so zogen sie als Mieter in die Stiftung. Es ist mir nicht begreiflich, warum nach all der Not und dem Elend, bei den vielen Kriegswaisen, die das Inferno hinterlassen hatte, nicht wieder die Stiftung in ihrer ursprünglichen, gewollten Form reaktiviert wurde. Auch unter der Würdigung der Verdienste von Frau Auguste Förster, ihrem eigenem großen Engagement und Schaffen, das ich gewiss nicht verleugnen werde: es war noch immer die Stiftung von George André Lenoir. Und als diese hätte sie weitergeführt werden müssen und sollen.

Was hat die Stadt Kassel, was hat die Stiftung daran gehindert? Die Antwort auf diese Frage kann ich nicht geben; mir ist kein vernünftiger Grund dafür bekannt.

Nun, immerhin wurde die Stiftung wieder von Kindern bevölkert. Nachdenkliche, traurige, traumatisierte Kinder, die in den Kriegsjahren - und wohl auch danach - viel Schlimmes gesehen und erlebt hatten. Mit einigen dieser ersten Kinder habe ich später persönlich gesprochen. Sie hatten vieles zu erzählen. Viele Geschichten, die es auch wert wären, aufgeschrieben zu werden.

Das Mittelhaus der Stiftung wurde durch die Elisabeth-Knipping-Schule genutzt, die dort eine Außenstelle mit Internatsbetrieb unterhielt. Dort wurden junge Kinderpfleger/-innen und Erzieher/-innen ausgebildet. Eine interessante Kombination, der Verbund von Ausbildung und gleichzeitige Praktika und Angebote für die Kinder des Heimes. Und nebenbei bemerkt: eine Attraktion für die Junggesellen der Umgebung. Viele der Schülerinnen blieben dadurch der Gemeinde erhalten...

Das Haupthaus (Mittelhaus) wurde von der Elisabeth-Knipping-Schule bezogen, die dort eine Außenstelle mit Internatsbetrieb für Kindergärtner/-innen und Erzieher/-innen einrichtete. Eine interessante Kombination; die Ausbildung von jungen zukünftigen Pädagogen innerhalb eines Kinderheimes. Die angehenden Pädagogen absolvierten Praktika in den Gruppen und boten verschiedene Aktivitäten an. Und bildeten zudem eine der größeren Anziehungspunkte für die Junggesellen der näheren Umgebung. So verwundert es nicht, dass einige der ehemaligen Schülerinnen bis heute im Ort verblieben....

Der Verkauf der übrig gebliebenen Länderein ging weiter. 1969 wurde der Teichhof, der zu früheren Zeiten als Bauernhof für die Stiftung diente und die Kinder mit dem Lebensnotwendigen versorgte und zugleich Ausbildungs- und Übungsstätte der Stiftlinge war, mit fast allen Ländereien an die Stadt Hessisch Lichtenau verkauft. Später folgte der "Rote Platz" - der große heimeigene Spielplatz -, sowie die Gärtnerei, die neben Obst und Gemüse auch die Bepflanzung der Rondelle, der Blumenkästen an den Häusern und die Pflege der Rasenflächen besorgt hatte. Die Besitzungen der Stiftung schrumpften immer mehr. 

Über 30 Jahre war das Auguste-Förster-Haus Mieter in der Stiftung. Bis zu 120 Kinder lebten dort. Es gab eine "Kleinkindergruppe", eine Mädchen-, eine gemischte und 3 Jungengruppen. Eine eigene Krankenstation, Waschküche und Nähstube, Hausmeisterei und die Gärtnerei. Über lange Jahre hinweg auch eine eigene Heimsonderschule.

Und dann, 1983 verabschiedete sich auch das Auguste-Förster-Haus aus der Stiftung, nachdem zuvor schon die Elisabeth-Knipping-Schule ihren Sitz dort auflöste. Die Stiftung stand wieder einmal leer. Verkam, verfiel. Eine neue Nutzung ließ auf sich warten.

1988 pachtete das Land Hessen das Anwesen, um dort Aus- und Umsiedler unterzubringen. Was nicht gerade breite Zustimmung in der Bevölkerung auslöste. Dächer und Fenster wurden erneuert, die Räume teilweise umgebaut, Sanitäranlagen erneuert, Strom und Heizung modernisiert. Es wurden Millionen investiert. Und 1992 wurde das Anwesen vom Land Hessen für den Kaufpreis von 5,2 Millionen DM erworben.

Auch diese Zeit ging vorbei. Der Strom der Aussiedler versiegte allmählich, neue Unterbringsformen wurden gefunden und so schloss auch das Land Hessen 2000 die Pforten. Die Häuser standen wieder leer. Ein Käufer wurde gesucht; nicht ganz einfach, bei so einem Anwesen. Das Gelände wuchs zu, durch Vandalismus ging vieles zu Bruch. 

Inzwischen sind die Gebäude verkauft. Für einen lächerlichen Betrag. Und stehen weiterhin leer. Die Fenster sind eingeschmissen. Regen und Wind, Schnee und Sturm haben ungehindert Zutritt. Die neu angelegten Wege sind verschwunden. Das Pestalozzidenkmal zeigt Schäden. Die Jungen- und Mädchenköpfe über den Haupteingängen der Häuser verwittern. Kleine Bäume wachsen auf den Fenstersimsen, der Sandstein verfällt. Längst wird nicht mehr geheizt. Und der Denkmalschutz schaut schweigend zu - oder weg.

Und damit könnte die Geschichte einer hochherzigen, reichbedachten Stiftung wohl enden. Ein trauriges Ende. Aber ein Teil bleibt noch: das Mausoleum. Und das ist eine eigene Geschichte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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