George André Lenoir (Bild oben)

 

Man muss sich in die Zeit vor über 100 Jahren zurück versetzen. Oder noch weiter zurück. Denn fast jede Geschichte hat eine "Vorgeschichte". Nicht immer wirkt sich diese direkt auf das spätere Geschehen aus. In diesem Fall jedoch glaube ich, dass dieser Epilog einen großen Einfluss hatte....

Also gehen wir zurück. Bis in die Regierungszeit von Ludwig XIV und hinein nach Frankreich. Eine blutige Zeit, insbesondere für die Angehörigen der evangelischen Minderheit.

Ursprünglich herrschte in dem von Ludwig dem XIV. regierten Land Religionsfreiheit und so lebten die evangelischen Christen - die Hugenotten - ungehindert in ihrem Glauben. Das sollte sich jedoch ändern, als der König älter wurde und gedrängt vom Papst um sein Seelenheil fürchtete. Und so stellte er sich die Aufgabe die "irrenden protestantischen Schafe" wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückzuführen. Als seine anfänglichen Bemühungen nicht fruchteten ergriff er härtere Massnahmen und hob das Edikt (kaiserlichen Erlass) von Nantes auf,  welches am 13.April 1958  vom französischen König Heinrich IV. erlassen wurde. Dieses Edikt gewährte den Calvinisten Gewissensfreiheit und die freie Religionsausübung in der Öffentlichkeit. 

Jeder, der sich nunmehr weigerte, seiner "Irrlehre" abzuschwören und in den Schoss der heiligen römischen Kirche zurückzukehren, drohte nunmehr der Tod. Viele Hugenotten wurden in der folgenden Zeit getötet; viele flüchteten ins Ausland. 

In Hessen hatte Landgraf Karl bereit am 18.4.1685 ein "Patent" erlassen, in dem er "fremde, reformierte Manufakturisten" in sein Land einlud und ihnen hier Religionsfreiheit zusicherte. Zu diesen verfolgten Hugenotten gehörte auch die Familie Le Noir. Und so ging der erste Le Noir, Jaques, nach Kassel, wo er später als Gärtner arbeitete. Die späteren Nachfahren wurden teilweise Kaufleute, teilweise ergriffen sie andere Berufe. Aber durch all die Jahre blieb ihnen allen bewußt, dass sie wegen ihres Glaubens einstmals verfolgt und mit dem Tode bedroht waren. 

So liegt der Urspung der "Lenoirs" in Frankreich. Den Vater der beiden Brüder George André und Conrad ärgerte es oftmals, dass die Kasselaner seinen Namen weder richtig schreiben, lesen noch aussprechen konnte. Deshalb wollte er seinen Namen in das deutsche Wort "Schwarz" ändern lassen, was von den Behörden jedoch abgelehnt wurde. Erst später wurde aus geschäftlichen Gründen der Name "le Noir" von einigen Familienmitgliedern in einem Wort, "Lenoir" geschrieben.

Die Eltern des Stifters - besser gesagt der Stifter; denn der kleine Bruder zählt mit dazu - waren wohl weltoffene Menschen, die auf Grund ihrer Geschichte Offenheit und Gleichheit der Menschen  an ihre Söhne weiter vermittelten. So lässt sich wohl auch der Passus aus dem Stiftungsschreiben von 1891 ("...ohne Rücksicht auf Confession, Orts- und Landesangehörigkeit...") erklären. Dies war zur damaligen Zeit nicht unbedingt selbstverständlich. Es wurde oftmals nach der Religionszugehörigkeit oder nach der Nationalität unterschieden und gehandelt. 

Nun, das Jahr 1891. Kaiserreich. George André Lenoir hat sich entschlossen, seiner Heimatstadt ein Waisenhaus zu stiften. Eine löbliche Absicht; aber nicht einzigartig. Einige vermögende Menschen hatten dies schon zuvor getan. Manche aus gütigem Herzen, manche um ihr Gewissen zu beruhigen. Aber den meisten dieser Stiftungen war es eigen, dass dafür die Mittel gestellt wurden; eine positive Änderung der Verhältnisse in den damaligen Waisenanstalten brachten sie nicht. Die Kinder, die dort untergebracht wurden, hatten gewiss kein leichtes Los. Schon früh mussten sie durch Arbeit für den Unterhalt aufkommen. Die Verpflegung war kärglich, die Räumlichkeiten eng und dunkel, das Personal nicht entsprechend ausgebildet. Schläge und Torturen waren an der Tagesordnung. Die schulische Ausbildung war nur notdürftig und eine Ausbildung erhielten nur die allerwenigsten. Wozu auch; eine Ausbildung kostete Geld. Und wozu sollte die Gesellschaft, der Staat und die Kommunen noch dafür Gelder aufwenden? Und so war es nur den wenigsten dieser Kinder vergönnt, eine geborgene Kindheit zu verbringen; ganz zu schweigen davon, gemäß ihren geistigen oder körperlichen Anlagen eine Bildung zu erhalten, die es ihnen im späteren Leben ermöglicht hätte, aus diesem Teufelskreis von Armut und Verwahrlosung auszubrechen. Natürlich gab es löbliche Ausnahmen, aber sie waren selten.

George André war dies bewusst. Und es war nicht das, was ihm vorschwebte. Er hatte eine glückliche und unbeschwerte Kindheit verlebt. Und genau eine solche wollte er den Kindern, für die er seine Stiftung gründete, ermöglichen. 

Er machte es sich nicht leicht. Er besichtigte viele der damals "führenden" Einrichtungen, schaute sich Bethel an, besuchte jüdische, katholische und evangelische Heime. Sichtete und bewertete. Und er machte sich schlau, beschäftigte sich mit den Gedanken und Schriften von Johann Heinrich Pestalozzi, dem großen Schweizer Pädagogen und Sozialreformer, der sein großes Vorbild wurde. Ebenso las er die Schriften von August Hermann Francke (evangelischer Geistlicher und Erzieher, Begründer der Franckesschen Stiftungen), von Johann Hinrich Wichern (evangelischer Theologe, Gründer Inneren Mission und des "Rauhen Hauses") und von Vinzenz von Paul (Begründer der katholischen Caritas, Stifter der Lazaristen  und der Barmherzigen Schwestern). Er war ein gewissenhafter Mann; und er wollte das Beste für seine Zöglinge. Er wollte mehr. Er wollte - so wie er es auf die Stiftertafel gravieren ließ - "...den Kindern in ihrer Jugend das Elternhaus ersetzen...". Nicht nur ein Heim gründen. 

Und aus all diesen Gedanken, aus all diesen Vorbildern und aus seinen eigenen Erfahrungen klaubte er das Beste, das pädagogisch wertvolle und das liebevollste heraus. Er verbrachte Jahre damit, zu lernen und zu planen. Getragen von dem Wunsch, etwas dauerhaftes und wirklich sinnvolles zu erschaffen, dass den Schwächsten dieser Gesellschaft  - den Kindern - zu Gute kommen sollte.

Und so stellte er nicht nur die finanziellen Mittel zur Verfügung. Er stellte ebenso die Grundsätze auf; hauptsächlich getragen von den Gedanken Pestalozzi´s. Seine Kinder sollten gesund und behütet aufwachsen, wie in einer Familie. Sie sollten gesund ernährt werden, geistig und körperlich gesund heranwachsen. Sie sollten behütet und gebildet werden.

Einer seiner Grundsätze für die Erziehung "seiner" Kinder war Liebe.  Diese Liebe sollten sie in familienähnlichen Gruppen erfahren, in denen nicht mehr als 12 Kinder - altersmäßig nach Möglichkeit gestaffelt wie die "Orgelpfeifen" - durch Erzieherinnen und Lehrer erzogen wurden.  Diese Gruppengröße war für damalige Verhältnisse sehr klein; ebenso war der Gedanke der "Familiengruppen" neu. Gewalt als Erziehungsmittel lehnte er ab. Jedes Kind sollte entsprechend seinen Anlagen gefördert werden; kein Kind sollte ohne Ausbildung seine "Anstalt" verlassen. Diejenigen von ihnen, die die Veranlagung dazu mitbrachten, stand es offen, nach Möglichkeit zu studieren oder sich auf anderen Wegen soweit als möglich fortzubilden. Bei ihrer Entlassung aus seiner Fürsorge sollten sie mit Ausbildung und einer finanziellen Sicherheit - jedes Kind erhielt ein Sparbuch in Höhe von 100 Goldmark - in die Welt ziehen. Und auch im späteren Leben sollte ihnen die Stiftung zur Seite stehen, wenn sie der Hilfe bedurften. Die "Familie" sollte nicht mit Auszug aus der Stiftung enden; sie sollte immer für sie da sein.

Dies alles war nicht leicht zu bewerkstelligen. Für seine Ideen brauchte George André Platz und Raum. Ihm schwebte eine saubere, gesunde Umgebung vor; auch die Ernährung der Kinder und die Möglichkeiten zur Ausbildung sollten gegeben sein. In Kassel fand er kein geeignetes Grundstück. Und so kaufte er das dem Ritter von Eschwege gehörende Gut Teichhof in Hessisch Lichtenau/Fürstenhagen. Der Gutshof diente der Bewirtschaftung der Felder, dem Anbau von Gemüse und der Viehzucht für die Stiftung. Neben den 3 großen Gebäuden, die er als Kinderheim errichten ließ, wurde eine eigene Gärtnerei gebaut. Die Häuser waren großzügig angelegt. Speisesääle, Bibliotheken, eine eigene Turnhalle. Wannenbäder, Zentralheizung. Helle offene Veranden. Freundliche Zimmer. Er kümmerte sich um jede Kleinigkeit, bemängelte Missstände, ließ sich bei Abwesenheit über alles berichten und erteilte sodann telegrafisch Anweisungen. Es war ihm eine Herzensangelegenheit. Keine Kostensache. Und so stockte er die Stiftung immer weiter auf, bis er der Meinung war, dass es gut war, was er für seine Kinder erschaffen hatte.

1909 waren zwei der drei geplanten Häuser erbaut und einzugsfertig. Und es war an der Zeit, dass die ersten Kinder seine Stifung bezogen.

Er war inzwischen ein alter Mann geworden, mit allerhand Gebrechen. Aber seine Stiftung, seine Idee, ließ ihn nicht ruhen. Und so ließ er es sich nicht nehmen, bei der Eröffnung dabei zu sein und eine längere Zeit dort mit ihnen zu wohnen und sich davon zu überzeugen, dass er wirklich alles ihm Mögliche getan hatte, um sein Ziel zu erreichen. Und so saß er oft am Pestalozzidenkmal - das er nach dem Vorbild in Yverdon hatte erbauen lassen - und unterhielt sich mit seinen Schützlingen. Ließ aus Kassel frisches Obst anliefern, feuerte den ersten Heimleiter - ein evangelischer Pfarrer, der in seinen Augen zu streng war - und genoss es, das Glück der Kinder zu sehen, die für die damalige Zeit in wirklich paradiesischen Verhältnissen lebten.

Eine Geschichte, die der erste Gärtner der Stiftung in den 50-er Jahren erzählte, möchte ich hier anführen. Eine von vielen....

Eines Tages rief George André Lenoir diesen Gärtner zu sich. "Stellen sie sich mal vor: ich habe mir heute vom Gut Teichhof eine gebratene Ente zum Mittagessen bringen lassen. Die hat 3,50 Mark gekostet. Das ist wirklich teuer. Wenn ich gewußt hätte, was die kostet, hätte ich ein Hühnchen genommen. Ich esse meinen Kindern ja alles weg...."

Und das, obwohl ihm bzw. der Stiftung das Gut gehörte. Er hätte sich zum einen die Ente umsonst kommen lassen können. Aber er hatte es ja gestiftet; also war es ihm Ehrensache, sein Essen zu bezahlen. Und die Sorge um das Wohlergehen "seiner" Kinder war höher, als seine eigenen Bedürfnisse.

Ich denke, es war auch eine glückliche Zeit für ihn. Sein Werk war weit fortgeschritten, die ersten Kinder hatten in seiner Stiftung eine neue Heimat gefunden. Er lebte in den "Stifterzimmern", lebte mit den Kindern. 

Am 8.10.1909 feierte er mit "seinen" Kindern zusammen den Geburtstag seines Vaters, beschenkte jedes Kind mit einem Sparkasenbuch, welches mit 100 Mark gefüllt war. Genoss noch immer das Zusammensein.

Als es Herbst wurde, war es für ihn wieder Zeit, der kalten Jahreszeit zu entfliehen. Er war nun 84 Jahre alt, und der Frost machte ihm zu schaffen. Und wie immer in den letzten Jahren entschloss er sich, den Winter in seinem Hotel "Meraner Hof" zu verbringen. Dass es sein einziger Sommer, sein einziger Herbst mit seinen Kindern sein sollte, ahnte er wohl nicht.

Und so reiste er kurze Zeit später ab. Ich kann mir vorstellen, dass es ihm sehr schwer fiel. Aber ich denke auch, dass er sich auf das nächste Jahr freute, welches er gewiss wieder in seinem Kinderheim verbringen wollte. Denn noch waren viele Sachen zu regeln; erst 2 der geplanten 3 Häuser waren gebaut. Die Honoratoren des kleinen Dorfes Fürstenhagen waren nicht glücklich darüber, dass ihre kleine Schule nun noch mehr Schüler aufnehmen, noch mehr Lehrer beschäftigen sollten. Das musste dringend geregelt werden; solange musste er eigene Lehrer beschäftigen. Ihm schwebte wohl noch so vieles vor, was er verbessern oder ergänzen musste.

Ihm war es nicht mehr vergönnt, nochmals seine Kinde wiederzusehen. Schon kurze Zeit nach seiner Ankunft im Meran verstarb er am 2.11.1909. Gemäß seinem letzten Wunsch wurde er nach Fürstenhagen überführt und am 11.11.1909 neben seinen Eltern und seinem Bruder im Mausoleum zur letzten Ruhe gebettet.

Ich habe oftmals über den Menschen George André nachgedacht. Ihn mir vorgestellt, die Unterlagen aus dieser Zeit durchgesehen. Mich mit den damaligen Verhältnissen, dem damaligen Los der Waisenkinder auseinander gesetzt. Zumeist tat ich dies im Mausoleum. Weil ich der Meinung war - nein, der Meinung bin - dort einen Hauch seiner Persönlichkeit und seiner Liebe zu "seinen" Kindern zu spüren. Und ich kann für mich behaupten, dass es wirklich so ist. Ich habe unendliche Gespräche mit ihm geführt. Keine Monologe, sondern Dialoge. 

 


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