Das Vergessen

 

Menschen vergessen. Manchmal ist das gut so. Aber manchmal ist Vergessen etwas, was schadet.

Als 1983 das Auguste-Förster-Haus als Mieter aus der Stiftung auszog, geschah genau dies mit dem Mausoleum. In den Jahren zuvor wurde das Teichwäldchen von der Hausmeisterei, der Gärtnerei und den Kindern des Heimes gepflegt. Was bei den Kindern natürlich nicht immer beliebt war, hieß es doch, Samstags mit Rechen, Besen und Schubkarren bewaffnet auszurücken und für Ordnung zu sorgen. Und das an einem Ort, den sie lange Zeit lang nur mit besonderer Genehmigung der Erzieher/-innen betreten durften und über dessen Bedeutung sie niemals aufgeklärt wurden. 

Auch das war "Vergessen". Ich habe als Kind niemals erfahren, niemals vermittelt bekommen, was für eine Bewandtnis es mit dem Mausoleum auf sich hat. Selbst der Name "Lenoir" war mir nicht geläufig. Und ich war gewiss ein neugierig Junge, der alles wissen wollte. Wir Kinder lebten im "Auguste-Förster-Haus", oder kurz gesagt dem "Gustchen". Auch im Dorf wurde nur von dem "Gustchen" gesprochen. Schon damals begann das Vergessen.

Erst als Erwachsener kam ich mit den Namen der Stifter in Berührung. Erfuhr von den Idealen, von der hohen Zielsetzung. Der Großherzigkeit und der Güte, die diesen Ort und die Stiftung an sich erst ins Leben gerufen hatte. Von der Idee, Kindern eine Familie zu ersetzen. Warum wurden wir nicht darüber aufgeklärt? Warum wurde uns diese Geschichte verschwiegen? War es reine Vergesslichkeit, wussten die Erzieher/-innen, die Heimleitung, die Angestellten und Arbeiter selber nichts davon? Oder war es ihnen schon egal, war es schon Geschichte? 

Ich hätte die Geschichte gerne schon viel früher gewusst. Vielleicht - wenn ich sie begriffen hätte - hätte ich einiges hinterfragt. Vielleicht gefragt: Was ist Familie? Manchmal auch: Was ist liebevoll? 

Nein, ich werde hier nicht darüber schreiben. Dies ist die Geschichte des George André Lenoir und seiner Familie, nicht die meine. Das wäre eine andere; vielleicht erzähle ich sie irgendwann auch einmal. Meine und die Geschichte anderer Kinder, die mit mir aufgewachsen sind. 

Bis zum Auszug des Auguste-Förster-Hauses wurde also die Pflege des Mausoleums und des Geländes von diesem übernommen. Aber als es auszog geriet das Mausoleum in Vergessenheit. Es fühlte sich keiner mehr dafür verantwortlich. Es rückte aus dem Bewusstsein und führte ein vergessenes Dasein. Die Wiesen verwilderten. Die Wege verschwanden unter Unkraut und kleinen Bäumen. Die Einfassungsmauern wurden von Farn und Gras besiedelt; die Pfosten zersprangen teilweise. Aus dem Terrazzoboden wuchsen Gras und Löwenzahn. Die Wände waren mit Farbe besprüht, teilweise mit Symbolen aus der Nazizeit. 

Der Teich, der zuvor jahrelang bewirtschaftet war, verlandete, der Deich wurde undicht, der Mönch (Wasserablauf) verrottete und hielt kein Wasser mehr, Schilf und Röhricht gingen ein, die Fische erstickten nach und nach durch Sauerstoff- und Wassermangel. Dafür wurden sie reichlich mit Müll entschädigt. Reifen, Kanister, ganze Mopeds, Flaschen und fast alles andere Vorstellbare sammelte sich.

Der Wald, der zuvor parkähnlich angelegt war, wucherte zu, wurde zu Urwald. Das Biotop, das unterhalb des Teiches lag, führte ein wasserloses Dasein, wartete auf das endgültige Aus. 

Das Mausoleum war vergessen. Und es stand kurz davor, Schäden zu nehmen, die nicht mehr auszugleichen gewesen wären. Durch das Vergessen.

Es war 1988 als ich mit meinem besten Freund - auch er ein ehemaliges Kind aus dem Kinderheim - wieder einmal durch das Teichwäldchen ging. Ohne besonderen Anlass. Zuvor war ich gewiss seit 2 Jahren nicht mehr dort gewesen. Und so kämpften wir uns durch den zugewachsenen Weg von dem Lossebrückchen in Richtung Wald, schlängelten uns durch die mannshohen Bäume auf den Seitenwiesen und standen schließlich vor dem Haupttor, welches schief in seinen Angeln hing, da einer der Pfosten der Länge nach gerissen war. Betrachteten die verwahrloste Wiese, die den Außenfriedhof darstellte, den zugewucherten Plattenweg. Umrundeten das eingezäunte Gelände und standen vor den schon erwähnten Schmierereien. Kletterten über den Zaun und standen ziemlich fassungslos in den Arkaden. Es war eine Affenschande. Und das ist noch harmlos ausgedrückt.

Es war mein Freund, der das Schweigen brach. Wir beide kannten das Mausoleum seit Kindesbeinen an; aber so, wie es nun aussah, war es beinahe fremd. Und er forderte mich dazu auf, mit ihm zusammen die Stiftung - die Stadt Kassel als Verantwortliche - darauf anzusprechen. Wir waren beide gelinde ausgedrückt empört.

Und so nahm es für uns seinen Lauf. Es war nicht einfach, die Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass dieser Zustand nicht weiter gehen dürfe. Wir beide wussten anfangs nicht, wie das zu bewerkstelligen sei. Wir stießen auf erhebliche Widerstände. Wohl auch, weil für eine Instandsetzung erhebliche finanzielle Mittel würden aufgewendet müssen. 

Wir nahmen mit dem Denkmalschutz Kontakt auf, als unsere eigenen Bemühungen nicht ausreichten. Erstaunlich war, dass zu diesem Zeitpunkt weder die Stiftungshäuser noch das Mausoleum dem Denkmalschutz-Beauftragten überhaupt bekannt war. Als ich Dr. Hasengier vom Landesamt für Denkmalpflege mit Bildern heimsuchte, fiel der aus allen Wolken. Irgendwie war dieses Anwesen durch alle Maschen der Denkmalpflege geschlüpft, war nirgends verzeichnet oder erwähnt. Damals hatte ich so den Eindruck, dass er mir nicht so recht glaubte...aber das änderte sich schnell, als er das erste Mal vor diesem einmaligen Gebäude stand. Mit geöffnetem Mund - so habe ich es jedenfalls in Erinnerung.

Natürlich wurde das Mausoleum unter Denkmalschutz gestellt. 

 

 


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